talking about sexual trauma

Our civilizations are traumatized by sexual violence. A poison we should neutralize by talking

Viel sexuelle Gewalt unter Jugendlichen

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„Jeder vierte hat bislang mindestens einmal im Leben, meist jedoch öfter, körperliche sexuelle Gewalt erlebt.“ Das ist kein Zitat aus einem Buch oder Artikel aus den 60er Jahren, sondern aus einer Studie, deren Ergebnisse gerade erschienen:

http://www.sueddeutsche.de/politik/sexuelle-gewalt-gegen-jugendliche-traenen-angst-scham-1.3541552

Ich muss sagen, ich bin platt. Ich dachte eigentlich, auf alles gefasst und mit allen Wassern gewaschen zu sein, wenn es um die Realitäten der sexuellen Gewalt geht. Weit gefehlt. Niemals hätte ich gedacht, dass sie im Leben von Jugendlichen heute so präsent ist. Und sie noch immer nicht wirklich wissen, was eigentlich sexuelle Gewalt ist. Noch immer verharmlost wird, und noch immer tabuisiert oder lächerlich gemacht wird. Also, was man tun kann, steht leider nur im Kommentar zum Artikel; gebe ich aber am Ende meines Beitrags hier noch durch. Zunächst noch ein paar Zitate: „Mehr als 90 Prozent der Schüler haben den 40-seitigen Fragebogen bis zum Ende beantwortet, anderthalb Stunden lang. Und viele haben ihn ergänzt. Eine Anmerkung lautet: „Ich kenne einige Leute, die Probleme in der Hinsicht sexuelle Gewalt haben. Auch in unserer Klasse deswegen hoffe ich dass sie durch die Studie zur Vernunft kommen und sich helfen lassen!“ (Zitatende)

„Nach der Bedeutung der Studie gefragt, antworteten 80 Prozent, sie sei sehr wichtig.“

„Nur 18 Prozent der Jungen (Mädchen: 60 Prozent) geben an, im Internet keine Pornos anzusehen, der Rest ist damit vertraut. Jeder zweite Junge schaut öfter, meist mehrmals pro Woche oder täglich.“

„Wir reden zuwenig über Sexualität“

Zuwenig, ich weiß nicht. Ich erziehe zwei Jungs, ich finde nicht, dass es viel braucht. Sie wollen gar nicht soviel davon hören; es ist erstmal ein beunruhigendes und etwas peinliches Thema für sie. Aber das Richtige, das sollte man / frau schon vermitteln. Wie z.B: „Pornographie hat mit realem Sex sehr wenig zu tun“. „Sex ist nur schön zwischen zwei Menschen, die ihn wirklich wollen. Alles andere ist ekelhaft“. „Zu Sex gehört Vertrauen. Lasst Euch Zeit“. „Sex wird Euch mit dem Menschen, mit dem Ihr ihn habt, noch enger verbinden. Überlegt Euch vorher, ob Ihr das auch möchtet“.

Ich glaube, das reicht schon. Na ja, und natürlich, was sie schon recht früh wussten: Dass es sexuelle Gewalt gibt, und dass sie verboten ist, und dass niemand einen anfassen darf, wenn man es nicht möchte.

Nun gut, sie sind inzwischen alt genug, um z.B. diesen Artikel zu lesen; bin gespannt, was sie dazu sagen werden.

Jetzt noch zum Thema: „Was kann man / frau tun“:

In der Schule anregen, dass sie eine Selbstevaluation in Sachen sexuelle Gewalt vornimmt, das Tool stellt die Stelle des Missbrauchs-Beauftragten zur Verfügung:

https://fragen-an-dich.de

Direktion, Vertrauenslehrer und Schulsozialarbeiter/in auf diese Homepage aufmerksam machen, die Schulen im Kampf gegen sexuelle Gewalt unterstützt:

https://schule-gegen-sexuelle-gewalt.de/home/

Mit der gerade publizierten Studie im Rücken kann man jedenfalls die übliche Antwort: „Das gibt es bei uns nicht“ leicht abwehren!

4 Kommentare zu “Viel sexuelle Gewalt unter Jugendlichen

  1. Hier noch ein interessanter Artikel zu der Studie:
    https://bildungsklick.de/bildung-und-gesellschaft/meldung/speak-studie-hauptrisiko-sind-gleichaltrige-jugendliche/

    Ich finde es sehr gut, dass einige Bundesländer diese Forschung in Auftrag gegeben haben (1)
    Dazu passt: http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-06/gewalt-fantasie-vergewaltigung-therapie (2)

    Ulrich Clements Analysen dazu, auf welche Weise sich bei Jungen eine (hetero-)sexuelle Identität herausbildet und was eigentlich hinter der Kopplung von Aggression und sexuellem Verhalten steckt, nämlich Schwäche, Unsicherheit, Unvermögen und Unkenntnis, die in Angst münden, sich aber in Sexualprotzerei und Übergriffigkeit äußern, kann ich nachvollziehen. Es zeigt sich immer mehr, dass wir bei der Debatte um sexuellen Missbrauch auch eine Diskussion über Sexualität führen (müssen). Das ist Chance und Hindernis zugleich. Was eindeutig fehlt, sind Fachleute, die sowohl über Wissen und Erfahrung im psychotraumatologischen Bereich verfügen, als auch Expertise in den Sexualwissenschaften besitzen. Angesichts der Komplexität und des Gewichts der Thematik ist es doch sehr eigenartig, dass beide Gruppen kaum interagieren. Haben sie denn keine Schnittmengen oder die noch nicht entdeckt?!? Wenn ich mir Expertisen und wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema „Sexualität“ ansehe, entdecke ich sehr widersprüchliche Ergebnisse. Es heißt doch „In keinem Bereich wird so viel geschwindelt, wie im sexuellen. Außer wenn es um Geld geht“ 😉
    Möglicherweise fehlt hier die Perspektive der PsychotraumatologInnen. Und umgekehrt: letztere Gruppe hat sehr viel Gutes zur Erklärung und Therapie von Traumafolgen nach sexualisierter Gewalt und Missbrauch entwickelt. Aber zum Thema „Traumafolgen und Sexualität“ gibt es erstaunlich wenig.

    Den Rat, sich auf der Seite des UBSKM zu informieren, kann ich nur unterstützen @nicht-die-einzige.

    LG
    Angelika Oetken

    (1) In Rückschau ging es in meiner Kindheit und Jugend in den 60er- und 70ern grundsätzlich nicht anders zu als heute – glaubt man den Ergebnissen, die die Studie liefert. Ich glaube, viele Babyboomer werden sich da wieder erkennen. Mit einem Unterschied: die Anmache und die Übergriffe fanden früher in aller Öffentlichkeit statt, live, natürlich nicht mit Hilfe des Internets. Heute verlagert sich das in die Anonymität der virtuellen Welt und den intimen Privatbereich und die Jugendlichen gucken sich den ganzen sexuellen Müll an, den Erwachsene so produzieren und konsumieren. Von Mädchen wird erwartet, dass sie das aushalten lernen, Jungen sollen so ihre „Männlichkeit“ beweisen. Früher waren aber die erwachsenen Männer viel schlimmer als die männlichen Jugendlichen, so erinnere ich es jedenfalls. Den Jugendlichen konnten wir Mädchen was entgegen setzen, insbesondere wenn wir uns zusammen taten. Die Erwachsenen waren viel heimtückischer und gefährlicher, insbesondere nach Alkoholkonsum. Dann zeigten sich die charakterlichen und sexuellen Verstümmelungen, das teuflische in ihnen ganz offen. Ich habe das immer auf die Verrohung geschoben, die viele durch faschistische Prägung und die Teilnahme am WKII erfahren hatten. Entweder hat es in einer Art Subkultur überlebt und äußert sich jetzt im Netz oder die Kultur der Übergriffigkeit ist älter und es ist deshalb schwerer, sie zu verwandeln.

    (2) Dass Ulrich Clement SM anpreist, betrachte ich als unangemessen. Menschen dazu aufzurufen, im sexuellen Bereich unter Anwendung von sadistischen Praktiken absolute Kontrolle auszuüben bzw. sie ganz abzugeben, stößt mir sehr unangehm auf. Ich kann mir aber vorstellen, dass es als gewohnheitsmäßige Re-Inszenierung von missbräuchlichen Situationen traumatisierten oder traumatisierenden Menschen Befriedigung verschafft. Vermutlich langfristig gesünder, als selbstverletzendes Verhalten, Gewaltausübung oder (noch) riskanterer Sex. Nicht ohne Grund gab es so einen Hype um dieses unsägliche „Shade of grey“. (BD)SM ist schick.

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    • Ja, sehr geschätzte Frau Oetken, Sexualität und erlittene sexualisierte Gewalt sind für viele Opfer in der Bewältigung wie in der Traumatherapie äußerst problematisch. Inwieweit es spezifische Therapien hierzu gibt, ist mir unbekannt. Ich schrieb zuletzt in meinem Blog zu diesem Thema folgendes:

      Viele Opfer dieser für normale Menschen schier unvorstellbaren erlittenen Gewalt haben einen Hang, Ereignisse ihrer Schändung in übertragener Form nachzuinszenieren, um sich hierdurch nachträglich die Mächtigkeit zu phantasieren, sie hätten das monströse Geschehen lenken und beeinflussen können. Es ist die Illusion, wieder Herr über seine Seele und Körper zu sein, die dieserart „Bewältigungsstrategien“ begünstigt. Doch im Grunde setzen die Opfer nur ihre erlittene Qual in anderer, nämlich kultivierter und ritualisierter Form fort, indem sie ihre Seele und ihren Körper selbst verletzen oder sich entwürdigenden Verletzungen aussetzen. Die Form dieser Beschädigungen ist vielfältig, sie reichen von Ritzen, über inszenierte Vergewaltigungen bis hin zu unterwürfigem, ja sklavischem Verhalten.

      Es sind dabei zwanghafte Muster, denen das Opfer folgt und durch die es Leid, Schmerz, Scham, Schuld und Reue erneut durchlebt. Der Unterschied ist nur, dass das Opfer sich illusioniert, diese Entwürdigung selbstbestimmt und somit kontrolliert zu erleiden. Dabei setzt es in Wahrheit nur die Impulse der Schändung und Misshandlung seiner Kindheit in obsessiver Weise fort. Diese Zwangshandlungen können sowohl reflektiert als auch unreflektiert ablaufen; wobei beides keinen Unterschied macht, denn die negativen Gefühle, die diese Nachinszenierungen auslösen, sind im Grunde nichts weiter als die Fortsetzung der in Kindheit und Jugend erlittenen Schmach. Ja, sie sind hilflose, weil stumme Aufschreie und dazu meist unsichtbare Auflehnung. Es sind die späten Schmerzreflexe des einst verletzten und vergewaltigten Kindes, dessen Seele durch die Schandtaten erdrosselt wurde.

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      • Ich war sehr überrascht, @Lotosritter, als ich vor einiger Zeit erfuhr, dass es nur sehr wenig Fachleute gibt, die sexualwissenschaftliche bzw. -therapeutische und psychotraumatologische Kenntnisse auf sich vereinen. Mir wurde von einer Expertin etwas zum Hintergrund dazu erläutert. Wonach es sich um das Ergebnis komplexer und schwieriger Entwicklungen handelt, die zu grundsätzlichen Unterschieden im Selbstverständnis beider Fachrichtungen geführt haben.

        Für Missbrauchsbetroffene, deren BehandlerInnen, aber auch allen, die sich mit Opfern, TäterInnen und solchen die vom Opfer zum Täter wurden beschäftigen, hat das selbstverständlich negative Auswirkungen. Für weibliche Missbrauchsopfer hat die Frauenbewegung Ansätze gestartet, in denen solchen Opfern Vorschläge unterbreitet werden, wie sie sich eine selbstbestimmte, lust- und würdevolle Sexualität zurückerobern können. Aber die Hinweise zielen auf einen bestimmten Typ Frau ab, es werden sich längst nicht alle betroffenen Frauen darin wiederfinden. Ich erinnere nur an den Klassiker „Ausatmen“ von Staci Haines. Ob es für missbrauchte Männer überhaupt vergleichbares gibt, weiß ich nicht.

        Auch in der Fachliteratur wird das jeweils „andere“ Thema höchstens gestreift.

        Um es mal etwas verkürzt darzustellen: so lange die Sexualwissenschaften so tun, als beträfe das Missbrauchsphänomen sie nicht und PsychotraumatologInnen davon ausgehen, dass sie sich in der Behandlung nur dann mit Sexualität beschäftigen müssen, wenn diese Inhalt der Pathologie ist, wird immer eine große Lücke klaffen. Und dies ist nicht nur für die direkten Opfer von Missbrauch schade, sondern auch für Mitbetroffene und letztlich die gesamte Gesellschaft. Denn schon um die Frage, was „normale“ oder „erfüllende“ Sexualität ist, wird hart und ausdauernd gerungen. Insbesondere von Leuten, die von sich behaupten bzw. annehmen, das Missbrauchsthema gehe sie nichts an.

        VG
        Angelika Oetken

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  2. Mit 12 Jahren wurde ich von einem älteren Jungen vergewaltigt. Und ich konnte ab diesem Alter beobachten, dass es sehr viel sexualisierte Übergriffigkeiten unter Jugendlichen gab. Von daher bestätigt mich die Untersuchung. Auch wenn ich es bei dieser Studie für nachteilig halte, dass der Begriff sexualisierte Gewalt so weit gedehnt wurde. Verbale sexuelle Gewalt ist hier kaum zu fassen, da sie offensichtlich auch ein verrohtes Verhalten einschließt.

    Gleichzeitig vermisse ich eine präzisere Betrachtung gleichgeschlechtlicher Übergriffe, allerdings wird allgemein ausgeführt: „Bei den Jungen wird an erster Stelle der Freund genannt (40 Prozent der betroffenen Jungen geben ihn als Täter an), fast gleichauf liegt der Mitschüler.“

    Letztlich ist der beachtliche Unterschied der Erhebung von genannter sexualisierter Gewalterfahrung von Jungen und Mädchen ebenso beachtlich und offenbar ein Manko all dieser Studien, da sich Jungen (als auch Männer) vielfach zurückhaltender äußern, auch weil sie gegenüber Übergriffigkeiten weniger sensibilisiert sind als Mädchen bzw. keine so tiefe Wahrnehmungsschwelle haben (S. 11).

    Hier gibt es eine Kurz-Übersicht der Speak-Studie: http://www.speak-studie.de/assets/uploads/kurzberichte/201706_Kurzbericht-Speak.pdf

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