Wer als Kind oder Jugendliche/r sexueller Gewalt ausgesetzt wurde, hat im Großen und Ganzen drei Möglichkeiten:
Verdrängen. Kann irgendwann schiefgehen, richtet im allgemeinen schwere Kollateralschäden bei den nahen Mitmenschen an, kostet Energie und Lebensfreude.
Behaupten, man komme zurecht. Man sei stark und jedenfalls stärker als – .
Oder es ablehnen, das Ganze als Privatangelegenheit zu betrachten, zu der das Geschehen den Opfern gerne erklärt wird, und die Aufmerksamkeit auf den Elefanten im Raum zu lenken versuchen, den niemand sehen möchte: Nicht etwa das private Schicksal, sondern die unheimliche Menge an privaten Schicksalen in unserer Gesellschaft, die an der Bürde tragen, Integrität und Würde früh im Leben durch sexuelle Übergriffe verloren zu haben, die für die Täter/innen wenig bis meist keine Konsequenzen hatten.
Die beiden Autoren, deren kürzliche erschienene Bücher zum Thema ich hier vorstellen möchte, bewegen sich zwischen diesen Polen; wie vermutlich die meisten Betroffenen. Der eine weigert sich, politisch zu werden, der andere, sein persönliches Erleben von Missbrauch als einmalig und an sich aufschreibenswert zu erachten.
„Mein Fall“ und „Damit es aufhört“ – die beiden Titel zeigen die unterschiedlichen Intentionen von zwei schmalen Bänden, die doch vom Gleichen sprechen: Als Schüler an einer katholischen Schule sexueller Gewalt durch Kleriker ausgeliefert gewesen zu sein. Und was passiert, wenn man wagt, das woanders als im strikt privaten Kreis zu thematisieren.
Den einen, Matthias Katsch, hat das Aufbrechen und Publikwerden des Geschehenen quasi zehn Jahre lang verpflichtet: Dazu, es aufzuarbeiten, aber nicht nur für sich selbst.
Es ist vielleicht genau diese Verpflichtung, der sich der Autor Josef Hasslinger entzieht. Er entzieht sich durch sein Buch sogar dem Prozess der Wiedergutmachung, die in Österreich für Opfer der Kirche vorgesehen ist. Er hat zu schreiben begonnen, um seinen Antrag zu stellen, und auch, um durch diesen Schritt ganz offiziell die Verharmlosung des Geschehenen (vor allem vor sich selbst) zu beenden. Als er am Ende ankommt, widert ihn das von der Kirche eingerichtete und auch beherrschte System so an, dass er seinen Bericht nicht mehr bei der Klasnic-Kommission abgeben will. Sondern ihn veröffentlicht.
„Macht daraus, was ihr wollt, ihr seid jetzt dran“. Es wird Zeit, dass andere für die Opfer eintreten, und nicht immer sie selbst.
Das meint auch Matthias Katsch, und auch sein Buch ist letztlich ein Aufruf, eine Bitte, erwachsen gewordene wie aktuelle Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch nicht länger alleine zu lassen. Den Tätern, der Institution und ihren Sitten und Mechanismen, die kindliche Opfer so leicht zu willkommener Beute machten, widmet er aber weniger Raum als Hasslinger.
Vielleicht ist Katschs Buch auch deswegen weniger schmerzhaft zu lesen. Es gibt über die tiefen Verstörungen, die sexuelle Handlungen an Kindern auslösen, durchaus Auskunft. Sachlich und distanziert.
Praktisch jeder Missbraucher macht seine Opfer zu Komplizen, und sei es nur, indem es seinen Qualen einen Sinn einredet (religiös, emotional, Schutz vor seinen Drohungen). Diesem toxischen, emotionalen Chaos zu entkommen, ist wohl für die Opfer eine der größten Herausforderungen.
Hasslingers Buch hingegen ist letztlich ein Einblick in den (noch nicht abgeschlossenen) Prozess der Distanzierung. Es ist haarsträubend, und das Zitat über einen seiner Missbraucher auf dem Cover bringt das Grauen auf den Punkt: „Nie habe ich von Pater G. erzählt, aus Angst, man könne mir anmerken, dass ich sein Kind geblieben bin.“ Selten hat jemand die seelische Deformation eines Kindes durch seinen erwachsenen Folterknecht so unaufgeregt aber treffend auf den Punkt gebracht.
Josef Hasslinger bleibt bei sich und den „Seinen“ – Tätern. Es sind Etliche, und er gibt sich nicht die Mühe, dem Leser den Überblick leicht zu machen. Sie sind überall, sie sind Teil der klosterschulischen Normalität und können deswegen nicht unterschieden und gezählt werden. Auch das, regt Hasslinger an, möchten doch andere tun, und womöglich auch schauen, was die Herren nach seiner Zeit im Konvikt an Kindern ver- und anrichteten.
Matthias Katsch wendet sich stärker den Opfern zu. Weniger dem eigenen Selbst, das Hasslinger als noch verstrickt erkennt – als den Bedingungen und Möglichkeiten, sich zuerst selbst zu befreien und dann auch für andere einzutreten. Für Katsch ist die eigene Befreiung nicht zu trennen von einer Auflösung der Missbrauchs-Strukturen. Diese beginnt mit dem Aufzeigen und Nachzeichnen, dem genau hinsehen: Mit Hilfe eines Fernsehsenders geht er auf die Suche nach seinen Tätern, und deckt ihre Strategien auf. Er findet heraus, dass sie weiter missbrauchen, Jahre nachdem sie Gegenstand eines öffentlichen Skandals waren, der extensive Reue- und Betroffenheits-Demonstrationen der Vorgesetzten und Mitbrüder auslöste.
Sich als einen Fall von vielen in eine Missbrauchs-Struktur einordnen, um genau diese Struktur verändern zu können: Nicht umsonst ist Katsch Philosoph. Befreiung durch Analyse, durch das Zeigen, was ist, und die Erkenntnis, wo Veränderung ansetzen muss.
Es ist, was in der Macht des Einzelnen steht: Viel und auch wenig.
Katschs Bilanz von zehn Jahren politischem und persönlichem Einsatz ist erstaunlich, ernüchternd, aber auch erhellend. Wie sehr die Politik die Konfrontation mit der Kirche scheut – letztlich quer durch die Parteien – und wie sehr sie Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs alleine lässt, es sollte alle Politiker beschämen.
So unterschiedlich die beiden Bücher von Hasslinger und Katsch sind – beide sind im Zorn geschrieben.
Und sind gleichzeitig nüchtern und sachlich.
Diesen emotionale Spagat-Übung werden die meisten Missbrauchs-Betroffenen kennen. Wie soll man ohne Wut und Bitterkeit durchs Leben gehen, ohne abzustumpfen oder den Bezug zur eigenen Lebendigkeit zu verlieren? Wie sollen wir andererseits unsere Lebensfreude und unsere Mitmenschen vor dieser Wut schützen? Durch ständige Einübung von Präsenz im Hier und Jetzt, ohne den Elefanten ausblenden zu müssen, den wir so oft und an so vielen Orten im Raum stehen sehen, ungestört, unbeachtet, aber verstörend.
Diese Übung ist beiden Autoren gut gelungen. Ich ziehe meinen Hut und lerne dazu für meine eigene tägliche Übung. Und lasse mich ermutigen von Haltung und Grazie, mit der Katsch und Hasslinger sie vollbringen.
Beide Bücher lesen sich übrigens leicht, denn sie sind gut geschrieben.
Pingback: "Mein Fall" - ein Buch von Josef Haslinger - Edith Buchhalter
13. April 2022 um 1:35
Ich finde Hasslinger nicht schlecht! „Gut“ könnte ich fast sagen, wenn ich das was ich von ihm lese nicht so grauenvoll fände.
Ich habe einmal mit ihm gesprochen. Das war eindrucksvoll! „Gut“ könnte ich fast sagen, wenn ich mich während dem Gespräch nicht so grauenvoll gefühlt hätte.
Er kommt nicht los! Er glaubt, sich gelöst zu haben, oder sich auf einem guten Weg des Lösens zu finden. Das er das glaubt und das er überhaupt noch glaubt, ist schwer zu ertragen. Nicht sein Glauben, sondern die Zerissenheit, die ich spüre, ist schwer zu ertragen. Ein Verdrängen im Bemühen seine Erlebnisse aufzuarbeiten. Wenn er vorträgt -egal was- hat man etwas das Gefühl einer Predigt beizuwohnen! Ob er das weiß?
Zu Katsch sage ich nichts.
Ermutigt haben mich beide nicht!
Ich finde Hasslinger nicht schlecht! „Gut“ könnte ich fast sagen, wenn ich das was ich von ihm lese nicht so grauenvoll fände.
Es ist gleich 02:00 Uhr nachts! Ich möchte jetzt aufstehen. In vier Stunden muss ich aufstehen, aber dann möchte ich nicht mehr. Das war nicht immer so. Es ist ein Kampf geworden seit ich über meine Geschichte gesprochen habe. Kurz ging es mir besser, dann wurde es zu dem Kampf der es heute ist, der alle Energie nimmt, der jede Lebensqualität raubt, der mir in jeder Faser meines Seins das Gefühl gibt, ich habe und bin verloren. Nichts wird mich noch retten. Retten wäre Leben spüren können. Aber wenn ich dann aufstehe, werde ich den Tag beginnen, wie alle Tage der letzten Jahre! Ich werde verdrängen! Ja, VERDRÄNGEN! Dann werde ich auch diesen Tag bestehen, und noch ein paar mehr. Ich werde dort verdrängen wo es noch geht, werde mich belügen, werde so tun , als wäre ich auf einem guten Weg! Vielleicht empfinde ich Hasslinger deswegen als „gar nicht schlecht“ Das ist- oder wäre – entsetzlich! Ich verdränge es.
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13. April 2022 um 15:59
Max, ich war heute auch viel zu früh wach. Ostern kommt, dieses blöde (eigentlich schön, aber nicht für mich) Fest. Gerettet werden wir nicht, aber das brauchen wir auch nicht. Auch wach zu liegen ist zu leben. Wach liegen ist die Zeit, in der ich mich um mich kümmere, wenn ich tagsüber nicht viel Zeit dazu habe. Es ist schwer, weil die Ruhe nicht da ist. Sie wird schon wiederkommen. Was soll ich sagen? Wohin die Wege führen wissen wir alle nicht.
Ich fand übrigens dem Hasslinger seine quälende weitere Verbundenheit mit der Täterorganisation auch ziemlich haarsträubend. Der katholische Chip. Furchtbar.
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13. April 2022 um 18:39
Doch, bisschen Rettung wäre gut gewesen.
Nein, die Ruhe gab es nie, heute ist sie ferner denn je.
Im vorletzten Satz ist eine super süddeutsche Dativkonstruktion! Da musste ich schmunzeln…
Gruß
@d_aiser
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