talking about sexual trauma

Our civilizations are traumatized by sexual violence. A poison we should neutralize by talking

Wahrheit oder Tod – ein Roman, in dem es schon zu spät ist („The Gathering“)

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75000 Euro Literaturpreis für ein Buch, das sich bis zur Vergabe des Booker-Preises gerade mal 3250 mal verkaufte – das ist eine kleine Sensation. Damals, 2009, freute sich Anne Enright denn auch, sich ein neues, schickes Kleid für die Verleihung kaufen zu können, und sicher auch darüber, sich gegen Ian McEwan durchgesetzt zu haben, dessen Roman gerade mit Keira Knightley in Hollywood verfilmt wurde.

Anne Enright ist die zweite Irin, die innerhalb von drei Jahren mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Die Insel bringt – war es der wirtschaftliche Boom? – interessante literarische Gewächse hervor. Enrights Roman »The gathering« ist, wie sie selbst sagt, »das Gegenteil von einem Hollywood-Heuler«, womit sie vielleicht die erbarmungslose Genauigkeit meint, mit der sie Sex genau so wie tote Körper oder eine vom Aufziehen von zwölf Kindern ausgezehrte Frau beschreibt.

Wer an leichter Unterhaltung interessiert ist, dürfte sich schwer tun mit dem Roman über eine 39jährige, die der Selbstmord ihres Bruders mit Fragen konfrontiert, die so existentiell sind, dass nichts anderes in ihrem bisher bürgerlichen Leben zählt, als ihnen nachzugehen. Von Trauer und Erinnerungen bedrängt, schlägt sie sich die Nächte um die Ohren und kapselt sich von ihrer Familie ab.

Wer aber etwas erfahren will über die Fundamente, die zwischenmenschliche Beziehungen und damit unser Leben bestimmen, wenn man Liebe und Verantwortung, materielle Abhängigkeiten, Sex und Tod unsentimental aber nicht gefühlskalt betrachtet, der ist bei Anne Enright richtig.

Die Ich-Erzählerin und Hauptperson heißt Veronica und ist eines der zwölf Kinder der ausgezehrten Frau. Veronica ist also Trägerin des genauen Blicks und der schonungslosen Wahrnehmung der Autorin. Allerdings haben den offenbar erst der Tod ihres Bruders aktiviert, denn für eine Modejournalistin, die nach der Geburt der Kinder zur pflichtbewussten Hausfrau und Mutter mutiert, wäre eine derartige Gabe eine Behinderung.

Außerdem hat sie als Kind etwas gesehen, das sie nicht wahrnehmen durfte: Den sexuellen Missbrauch ihres Bruders durch den Vermieter ihrer Großmutter. Der Buchtitel »The gathering«, hier als »Familientreffen« übersetzt, bedeutet zugleich: »Versammeln«, und in diesem Roman werden nicht hauptsächlich Familienmitglieder versammelt, sondern vor allem Fakten zu Zusammenhängen gefügt, damit sich Veronica nicht nur den Tod ihres Bruders sondern auch ihr eigenes Leben erklären kann.

Wie Enright das Zurückkehren der Erinnerungen, das Zusammenfügen des Puzzles beschreibt: Zwischen der materiellen Situation ihrer Großmutter,

dem Zustand der Mutter (ihrer Tochter) und dem Missbrauch des Enkels – das ist eine Meisterleistung. Nie gibt die Autorin in den Turbulenzen, die die Hauptperson schütteln, den Faden aus der Hand und nie langweilt sie den Leser mit bedeutungsschweren Beschreibungen lebenserschütternder Erkenntnisse.

Um die ganze mörderische Familienangelegenheit leicht und mit Humor nehmen zu können, wendet Enright mehrere Kunstgriffe an: Sie wechselt rasch die Zeitebenen – wenn es bei Großmutter Ada eine Weile zu heiß, zu traurig, zu beklemmend zugegangen ist, wechselt der Text wieder zur Totenwache mit den übrig gebliebenen neun Geschwistern und ihrem Anhang; wenn man da wieder von Gespenstern eingeholt wird, geht es ganz weit zurück in die Vergangenheit, als sich Ada, ihr Mann und der zukünftige Missbraucher ihrer Kinder und Enkel kennen lernen.

Und von dort wieder in Veronicas und Liams Kindheit und Jugend, mit den ersten Flirts und Beziehungskisten. Dass sie Wahrheitsfindung nicht auf einmal stattfindet, beschreibt Enright auch: Eigentlich geht es vor allem darum, sich über das Rechenschaft abzulegen, was man schon immer wusste, aber nicht sehen wollte. Dass die Großmutter, als 10jährige Waise, sich in ihrer Jugend prostituieren musste. Dass sie, die stets auf Sauberkeit und Anstand bedacht war, ihre Kinder und Enkel an den Vermieter prostituierte, weil ihr Mann dauernd das Geld für die Miete verzockte.

Enright beschreibt eine Suche nach der Wahrheit. Die Wahrheit wird gefunden, sie ist nicht schön, aber sie ist ein fester Grund. Die Wahrheit ist auch verwirrend. Wer war diese Großmutter? Wie hat sie funktioniert? Nein, sie war keine kalte, sadistische Kupplerin. Fürsorglich durchaus auch. Gefühllos wohl auch. Wie die Mutter. Wie der Sohn und die Tochter. Sie hat sich »nur« dafür entschieden, etwas nicht sehen zu wollen, das Täter wie Opfer ohnehin vor ihr verbargen.

So unauffällig und bieder kommen schwere Vergehen, die eine ganze Familie Gesundheit und ein Mitglied auch das Leben kosten, bei Enright daher. Kein Wunder also, dass man dem Buch in der englischen Kritik vorgeworfen hat, ereignislos zu sein. Enright verzichtet darauf, hoch dramatischen Situationen auch noch einen dramatischen Touch zu geben. Es würde sie nicht klarer machen.

Enright beschreibt die Ereignisse, die einen Menschen und damit sein Leben grundlegend verändern. Schreibt von diesem geheimnisvollen Ort aus, wo alles zusammengehalten wird – das Verhältnis, das man zu sich, zur Welt, zu den Mitmenschen hat – oder auseinander fällt. Illusionslos aber und mit Humor. Denn sie weiß, dass es keine letzten Gesetze zu erkennen gibt, kein Ende zu erreichen ist. Dass leben nicht unbedingt lebendig sein heißt und lebendig sein ein Prozess ist und kein Zustand.

Anne Enright, das Familientreffen.

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