talking about sexual trauma

Our civilizations are traumatized by sexual violence. A poison we should neutralize by talking

Elefanten-Safari (1) – Wir sind nicht nur Opfer „unserer“ Täter

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Hinweise, groß wie Elefanten – und niemand wollte sie bemerken. „Olympische Mentalgymnastik“ sei betrieben worden, schreibt der Journalist Carl Wilson, um jahrzehntelang über die Hinweise auf sexuelle Gewalt durch Michael Jackson hinwegzusehen. Erst als Jackson tot war, durften die Opfer auf Gehör hoffen. Ob sich das inzwischen geändert hat?

https://slate.com/culture/2019/02/michael-jackson-leaving-neverland-cancel-culture-metoo.html

Wie ist das heute, mit den Elefanten? Sie werden weiter gerne ignoriert. Warum? Weil wir halt nicht diejenigen sein wollen, die den Elefanten wahrnehmen. Denn was würde das über uns sagen?

Warum wir lieber blind bleiben.

Das erste Mal, dass ich den Elefanten bewusst wahrnahm, muss irgendwann in der zwölften Klasse gewesen sein, im Philosophie-Unterricht. Wir lasen diesen Text von Platon, in dem er schreibt, die „Knabenliebe“ sei der Beginn der Philosophie; oder der Weisheit. Ich saß da und wartete darauf, dass irgendwer nachfragte, wie die Aussage gemeint sei, und wieso „Knabenliebe“; aus dem Text geht ja durchaus hervor, dass es um Sex geht. Niemand. Dann doch der Lehrer? Man ahnt es: Auch der nicht.

Philosophie war mit mein Lieblingsfach, aber ich – damals erst vage ahnend, dass ich leider wusste, wie sich „Knabenliebe“ für die Opfer anfühlt – konnte mich für den Text nicht mehr interessieren. Ich wartete. Ich warte noch heute. Manchmal träumte ich, dass ich in diese Schule zurückkehrte, in den Klassenraum, irgendetwas suchend.

Dringend. Etwas – Jemand – der oder die mir zeigte, dass Philosophie, diese Kunst, an deren Anfang ein verbrämter Akt der Gewalt stehen sollte, dass sie auch mir zugänglich sei, mir offen stehe, dass ich nicht das Objekt, das Mittel zum Zweck sei, durch das einem anderem „Erleuchtung“ zuteil wird, sondern – was eigentlich?

Jemand, die auf diesen Elefanten starrt, um den sich sonst niemand scherte.

Und deswegen leider abgehängt, an den Rand geraten. Wer bin ich, die als Kommunionskind Opfer eines pädokriminellen Pfarrers wurde, wenn ich mit einer Disziplin zu tun habe, deren Grund so gelegt wurde? Kann ich je eine Philosophierende werden?

Anderen jungen Menschen stellt sich die Frage in anderen Disziplinen: Missbrauchsopfer müssen diesen Teil ihrer Persönlichkeit (also auch den in Resilienz Geübten) verbergen und verleugnen, wenn sie sich für eine Ausbildung als Psychotherapeuten bewerben.

Ich kenne kein wissenschaftliches Fach, keinen Beruf, von dem ich sagen würde: Hier können sich Überlebende outen. Belehrt mich eines Besseren. Selbst „Kreativen“, Menschen ohne Arbeitgeber, kann daraus ein Strick gedreht werden. Es gab sie, die Feuilletonist*innen, die Christian Kracht, als er mit seiner Gewalterfahrung am Internat herausrückte, Effekthascherei unterstellten, ja Lügen. Hätte er seine Erfahrung früher thematisieren dürfen, wäre Krachts Erstling womöglich spannender und interessanter geworden. Aber er hat schon gewußt, warum er das unterlassen hat.

Sogar schwuler Fußballer geht inzwischen, irgendwie, einigermaßen, auch wenn es kein Zuckerschlecken ist. Aber outet Euch ja nicht als Überlebende sexuellen Missbrauchs, erst recht nicht am Arbeitsplatz.

Der Alptraum kam wieder, als unser Ältester aufs Abitur lernte. Eine der Französisch-Lektüren: Michel Tournier. Den ich auch schon fürs Abitur lesen musste. Wieder Elefanten: Dieses widerliche Zelebrieren seltsamer sexueller Rituale (im Roman); und inzwischen weiß ich, dass auch dieser Autor einer von denen ist, der im Maghreb minderjährige Jungen missbrauchte (Algerien, glaube ich), und das auch freimütig irgendwo zu Protokoll gegeben hat. Der Elefant steht also schon lange als solcher benannt im Raum. Aus dem Lektüre-Programm für Schüler*innen ist Tournier immer noch nicht gestrichen. Vielleicht ja bald mal; man beginnt in Frankreich, die Elefanten auch bei gefeierten Intellektuellen zur Kenntnis zu nehmen, und mit dem Finger darauf zu zeigen: „Oh, der ist ja pädokriminell“. Ja, das ist er, wie auch dieser mittelmäßige Schriftsteller Matzneff beispielsweise, der Jahrzehnte lang darüber schrieb, und seine Förderer bezahlten die Hotel-Rechnungen für seine Vergewaltigungen und der Präsident eine Dauerrente. (Darüber schreibt Vanessa Springora, eines seiner Opfer, in „Le Consentement“).

Jetzt ist Michel Foucault dran, und er wird auch hierzulande fleißig verteidigt, weil nicht bewiesen ist, dass er in Tunesien Jungen missbrauchte; nicht unser Foucault. Aber die Elefanten in seinen Schriften, sie wurden und werden weiter übersehen. Oder – der Zeitgeist wird beschworen (das Argument scheint bloß suspekt zu sein, wenn die katholische Kirche es einsetzt), oder: Foucault war doch selbst diskriminiert!

Ich bin keine Foucault-Kennerin. Das qualifiziert mich vermutlich leider genau zu dem, wozu Kenner*innen nicht in der Lage zu sein scheinen – aus Sorge, ihre viele Arbeit mit und an einem nunmehr inkriminierten Autoren könne umsonst gewesen sein: Was ich gelesen habe, reicht. Die hermeneutischen Kniffe will ich sehen, die den Elefanten in einen Nasenbären oder sonstwas Unbedeutendes verwandeln. Foucault hat sich im Übrigen klar geäußert zum Thema Sex an Kindern, er faselt was von „Selbstbestimmung“, zu der Kinder fähig seien, und unterstützte klar Bestrebungen, Missbrauch zu entkriminalisieren.

Wer bereit ist, Elefanten zu sehen, entdeckt sie in der viel gerühmten „Geschichte der Sexualität“. Bibel emanzipatorischer Wissenschaft. Wen oder was sie emanzipiert, das entscheidet eben Foucault. Missbrauchsopfer jedenfalls nicht. Die sollen sich mal nicht so anstellen, und den „Dorfdeppen“, der neuerdings fürs Antatschen kleiner Mädchen bestraft werde, doch machen lassen.

Zehn Prozent der Bevölkerung sind in Europa geschätzt Missbrauchsopfer. Ihre Emanzipation aus den Opfer-Zusammenhängen, in die sie unverschuldet gerieten, scheint nicht gewünscht; die hehre Welt von Philosophie, Literatur- und anderer Wissenschaft ignoriert sie lieber. Neuerdings, seit die Opfer ihre Wunden zeigen, statt sich aus Angst vor Retraumatisierung und Ausgrenzung zu verkriechen, gibt es Fördergelder für bestimmte Forschungen. Manche sind sogar sinnvoll. Sie setzen oft „nur“ Brief und Siegel auf ein Wissen, dass wir Betroffenen schon lange haben.

Diejenigen von uns, die in die Psychiatrie abgeschoben werden, können dann eventuell Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ lesen. So wie ich es als Studentin tat, aber aus der sicheren Distanz einer Psychiatrie-Gruppe, deren Mitglieder – hauptsächlich Mediziner – regelmäßig Patientinnen und Patienten in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik besuchte, um sich mit ihnen zu unterhalten. Ich war in dieser Gruppe, um mich weniger einsam zu fühlen; und vermutlich auch, um mich zu versichern, dass ich auf der „anderen Seite“ stehe. Auf der Seite der „Gesunden“. Foucault-Lektüre (die eigentlich diese Barrieren einreissen sollte) hin oder her. Die Barriere steht ganz fest, und nicht wenige „Helfende“ ziehen genau daraus psychische Stabilität, so wie auch ich damals vermutlich.

Über die Zustände in den Psychiatrien, wo die Elefanten auch gerne tapfer ignoriert werden, z. B. unter dem Vorwand, es sei zu destabilisierend, sich mit ihnen zu befassen – ja freilich, aber destabilisierend für wen? Schweigen wir hier lieber, das wäre ein Kapitel für sich. Die französische Traumapsychologin und Forscherin Muriel Salmona könnte viel erzählen über die Abwehr von Medizin und auch Psychologie gegen die Traumata ihrer Patient*innen durch sexuelle Gewalt.

Frankreich? Schon Henry James schrieb ja über die Verkommenheit der Sitten im Sündenbabel Paris. In Deutschland sind die Elefanten grauer, es wird mehr geschwurbelt, um sich zu rechtfertigen, aber das offene Land scheuen sie auch hier nicht. Deutschland hat seinen George, seinen Gerold Becker, seine gehätschelten Missbrauchs-Geistlichen, all die übergriffigen Honoratioren – Ärzte beispielsweise, denen nicht beizukommen ist.

Deutschland hat auch Schriftsteller*innen, die sich mit dem Thema herumschlugen, aber das wird von den Literaturwissenschaften feste ignoriert. Vielleicht ist Kracht dabei, das zu ändern. Inzest? Das ist doch diese mythologische Angelegenheit, Ödipus und so. Es gibt (literaturwissenschaftliche) Bücher über den Mythos Inzest, aber nicht über die mehr oder weniger heimlichen Versuche im Kanon verankerter Schriftsteller*innen, über Inzest oder sexuelle Gewalt zu schreiben. Ich nenne nur Goethe und Musil. Dass Bachmann darüber schreibt, ist irgendwie bekannt. Ob es ihr, Canon-wise, zur Ehre gereicht, wage ich zu bezweifeln. Ohnehin gilt ja ihre Lyrik als preiswürdiger als die Prosa.

Über George gab es noch 2008 eine Ausstellung im Marbacher Literatur-Archiv, in der der Elefant der Missbräuche und Selbstmorde der sogenannten „Jünger“ Georges unbenannt im Raum stand. Der Kurator gab, von mir dazu befragt, zu Protokoll, wegen ihm könne George auch Säuglinge vergewaltigt haben, das interessiere ihn nicht.

Mittlerweile haben die Kreise um George einiges von ihrer beinahe mystischen Faszination eingebüßt, nicht zuletzt durch die Aktivitäten Betroffener eines der Unterkreise („Castrum Peregrini“), die sich für Aufklärung und Rechenschaft bezüglich der begangenen Übergriffe auf Jugendliche und Kinder engagieren. (s. dazu auf Twitter @ FrankLigtvoet)

Deutschland hat seine übergriffigen Pädagogen, die – Gerold Becker – einem Vater ins Gesicht sagen konnten, sie hätten eine „Liebesbeziehung“ zum Sohn; oder – der Jesuiten-Pater Ludger Stüger – der Fotos nackter Jungen in sexualisierenden Posen an die Wände eines Jungengymnasiums mit Internat hängte hatte, ohne dass irgendjemand es für nötig befunden hätte, sich mit der Anwesenheit dieses Elefanten auseinander zu setzen. Nicht zur Kenntnis genommen? Ausgeblendet? Nicht gewagt, es zu thematisieren?

Der Jesuit Mertes, Bundesverdienstkreuz-Träger in Sachen Missbrauchs-Aufklärung, äußert sich zum Thema so:

„In den neunziger Jahren versammelte sich die norddeutsche Jesuitenprovinz jedes Jahr zu einem Symposion in der Osterwoche am AKO. Wir sahen die Bilder, feixten über sie, sprachen das Wort „pädophil“ aus – und gingen dann wie-der nach Hause, kümmerten uns nicht weiter um das AKO, sahen die Jugendlichen (und Angestellten) nicht, die dort mit diesen Bildern lebten. Auch über das Buch von Miguel Abrantes Ostrowski tuschelten wir herum – und fragten nicht bohrend im AKO nach. Und dann ließen wir es wieder hinter uns. Godehard Brüntrup hat in seinem Text in dem Buch „Unheilige Macht“ beschrieben, wie ihm die pädophile Atmosphäre der Bebilderung am AKO schon bei einem Noviziatsbesuch im AKO auffiel. So ging es mehr oder weniger allen. Aber erst nach 2010 holte uns das Verdrängte wirklich so ein, dass wir es nicht mehr beiseite wischen konnten.“ (Aus: Ebba Hagenberg-Miliu, Unheiliger Berg; S. 197)

Er schämt sich, na ja, gut.

Wohingegen der Roman „Sacro Pop. Ein Schuljungen-Report“ von Miguel Abrantes Ostrowski – der wurde sehr wohl als unanständig wahrgenommen. Die grobe Ausdrucksweise, das Anzügliche wurden kritisiert. Sich gegen die Überbringer der Botschaft zusammenzurotten – das ist der Reflex – ein Leichtes.

Der ironisch-lässige Ton von Ostrowskis Text schmerzt. Es war damals wohl die einzige Art und Weise war, wie seine Beobachtungen an Mann und Frau zu bringen waren.

Wut, nein danke. Wütende Opfer sind nicht gesellschaftsfähig, noch immer nicht. Sie machen Angst, mehr Angst als die Täter, die sich ja nur an den Schwachen und Ohnmächtigen vergreifen. Darum kann auch ein katholischer Bischof, der den Titel „Missbrauchsbeauftragter“ trägt, sich über „aktivistische“ Betroffene beschweren. Verletzt sein gilt nicht; und wer es ist, möge doch zum Therapeuten gehen, und den braven Kirchgänger und seine Hirten in Frieden lassen.

Verletzt zu sein und es zu zeigen, ist unanständig. Nicht die Fotos von Jungen in sexualisierenden Posen. Die ständige Nähe des „großen“ Reformpädagogen zu Jungen. Dass Klaus Kinski sich ständig seine Tochter krallte und überhaupt völlig größenwahnsinnig war. Dass ich „Pfarrers Liebling“ war.

Unanständig war (ist?), so etwas überhaupt zu bemerken. Man bleibt höflich. Hält Grooming-Strategien für Kinderliebe (aber gerne doch) und das krampfhafte, von existentiellen Bedürfnissen getriebene Bemühen von Kinderjägern um Popularität und Akzeptanz für „Charisma“ (hingebungsvolles Seufzen). Versucht, sich den rosaroten Ponyhof zu erhalten. Um jeden Preis, auch den der körperlichen Integrität und der Würde von Kindern.

Das ist doch völlig bekloppt.

Was hier vorliegt, ist eine Form allgemein gesellschaftlicher Paranoia. „Die Elefanten, die sehen wir nicht“. Na gut, wenn’s sein muss, aber meine Überforderung (mein Leben / meine Kompetenz als Psychologin / der Ruf unserer Institution / die psychische Verfassung des Täters / seine Verdienste) ist wichtiger.

Ist es Überforderung? Oder, meine Vermutung: Eher das Akzeptieren der Tatsache, dass unsere Gesellschaft durch Gewalt strukturiert wird: Erst wird gebuckelt, dann sich hochgearbeitet bis dorthin, wo getreten wird auf andere buckeln Müssende. Macht auszuüben ist erstrebenswert und wird auch ausgeübt, um auf der richtigen Seite zu sein, und sich das zu zeigen. Gleichzeitig wird die Machtausübung verschleiert.

Machtverhältnisse werden verschleiert, das Ausüben (auch sexueller) Gewalt geleugnet. Da ist es nur konsequent, dass die Bewältigung der Folgen auf die Opfer abgewälzt wird. Und das ist der nächste Verrat an den Opfer von sexueller Gewalt, nach dem brutalen und fundamentalen Einreissen unserer Grenzen durch die Täter*in: Dass uns von den anderen vermittelt wird, es sei nur unser Problem.

Im Grunde sollen wir Opfer bleiben, denn die Profiteure der gewaltsam hergestellten und erhaltenen Strukturen möchten keine Veränderung. Den Preis für die Gewalt zahlen ja andere; aber auch das darf nicht benannt werden. Unseren Platz am unteren Ende der Hackordnung sollten wir ruhig behalten, dann ist der besetzt und niemand andere muss befürchten, dorthin relegiert zu werden.

Und wer wirklich nicht mehr schweigen und tragen kann, soll doch zum Psychotherapeuten.

5 Kommentare zu “Elefanten-Safari (1) – Wir sind nicht nur Opfer „unserer“ Täter

  1. Danke, Nicht die Einzige, für Ihre interessanten und nachvollziehbaren Überlegungen. Ich selbst befasse mich seit Jahrzehnten mit dem gleichen Thema. In den 80er Jahren noch in einem Umfeld, in dem es bei den Parteitagen der Grünen üblich war, der pädokriminellen Indianerkommune ein Forum zu bieten und die Medien deren kriminelles Treiben romantisierten. Als besagter Kinsky in Interviews paranoid pöpeln und Daniel Cohn-Bendit unhinterfragt den pädophilen Maulhelden mimen konnte. Es war die Zeit als die minderjährige Tracy Lords als Pornostar gefeiert und die Missbrauchsabbildungen der Irina Ionesco von ihrer Tochter in Illustrierten als avantgardistisch bewundert wurden. Kindesmissbrauch war vor gerade mal 40 Jahren Zeitgeist; da sind wir gottlob ein Stück weiter.

    Dennoch trampelt der Elefant, wie Sie skizzierten, weiter munter durchs Zimmer. Ich selbst blogge öfters über das gleiche Phänomen (Link unten) und frage mich immer wieder, woraus sich die Indolenz der Medien, Politiker, Familien und der Gesellschaft nährt. Was ist es, dass weltweit das Thema Kindesmissbrauch zwar derzeit noch medial etwas ventiliert wird, aber letztlich das Problem – und damit meine ich die Riesenaufgabe Kinderschutz – nicht wirklich angegangen wird. Übers Wochenende las ich einen Aufsatz über weibliche Täter, in dem eine mögliche Erklärung für die augenfällige Indolenz gegenüber diesen Missbrauchsverbrechen und ihren Täterinnen formuliert wurde:

    „Aufgrund einer solchen kollektiven Bagatellisierung von sexuellem Kindesmissbrauch durch Frauen könnte angenommen werden, dass sowohl Täterinnen als auch Betroffene womöglich weder den Missbrauch als solchen noch sich selbst in ihrer Rolle als Täterin und Betroffene erkennen können. Dies wiederum könnte die Diskrepanz zwischen Hell- und Dunkelfeld erklären. Offizielle Meldungen und Anzeigen bleiben aus, da die beteiligten Personen selbst (zunächst) nicht wissen, wie sie die sexuellen Handlungen Einordnen sollen. Dazu passend bezeichnete Eastwood (2003) sexuellen Missbrauch durch Frauen auch als „stummes Verbrechen“ („silent crimes“).“ (Quelle: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Volume 27, 2020 (2), 161-172; Weibliche Devianz: Sexueller Kindesmissbrauch durch Frauen, Safiye Tozdan)

    Es fehlt offensichtlich weltweit der Sinn dafür, was für ein seelenmordendes Verbrechen Kindesmissbrauch ist. Diese fehlende Sensibilisierung scheint in der Tat historisch eingefleischt zu sein. In Afghanistan haben etwa 60 % der Männer in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch durchlitten, und das ist keine Folge der letzten Kriege dort, sondern jahrhundertealte „Tradition“. So wie es eine viele jahrtausendealte „Tradition“ ist, dass Priester Kinder missbrauchen.

    Eine ebensolche Tradition ist es, dass hin und wieder ein Überlebender von Kindesmissbrauch durchknallt und dem Boulevard eine wütende Performance liefert, über die man das Thema auch wieder zum Einzelfall diminuieren kann. Die letzten großen aufgedeckten Verbrechen wurden ja auch alle als Einzelfälle dargestellt und nicht als Spitzen einer Seuche, die die Gemüter von 10 % der Bevölkerung verschattet. Ich denke da zum Beispiel an Andreas Altmann, der mit seinem Buch „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ vor 10 Jahren ein paar Talkshows aufmischen durfte, ehe er wieder in der Versenkung verschwand. Er war ein Narr, der seine Schuldigkeit getan hatte.

    Ich bin wohl ein ähnlicher Narr, denn mich blockiert der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) seit November letzten Jahres, weil ich es wagte, bei Twitter zweimal seinen Account @ubskm_de zu verlinken, um auf die Aktion „#purplewinter“ zu verweisen. Der wahre Grund für die Blockade war indes wohl der, dass ich ihm gegenüber zu kritisch und nicht devot genug war.

    Aber eben diese Blockade zeigt deutlich, ein Missbrauchsopfer ist das freakigste unter den Prekären, es ist so voll daneben, dass es mit seiner Nerverei nur ausgeblendet, geblockt und getilgt werden kann. Denn allein seine Anwesenheit ist schlicht unpassend und deswegen nur geduldet. Wer es nicht glaubt muss nur den Umgang mit ihnen bei den öffentlichen Hearings der Aufarbeitungskommission beobachten. Den Opfern fehlen allein durch ihre Geschichte die Eloquenz und die Distinktion, die die Vertreter der Täterseite selbstverständlich als Kastenmerkmale verinnerlicht haben. Dementsprechend abweisend wird ihnen auch begegnet.

    In diesem Sinne stehen wir nach Jahrtausenden tabuisiertem Kindesmissbrauch in der Tat jetzt erst am Anfang einer Entwicklung. Und wenn wir nicht achtsam sind, werden wir bald nur noch ein vergessenes Intermezzo sein. Lassen wir es nicht dazu kommen.
    https://lotoskraft.wordpress.com/?s=Elefant

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  2. Interessanter und toller Beitrag! Das mit Foucault ist mir neu, bin aber auch keine Foucault-Kennerin… Schön, dass sich hier jemand damit auseinandersetzt, wie sehr sexuelle Gewalt in der Gesellschaft verankert ist, vor allem das nicht sehen wollen. Treibt mich auch sehr um. Ich habe übrigens vermutlich vor mich in einem wissenschaftlichen Fach als Überlebende zu outen, mal sehen wie das wird… Alles Liebe!

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  3. Puuuh.
    Genügt mir, die paar Zeilen zu lesen.
    Unvorstellbar.
    Mutig.
    Ich erhöhe auf 58 Jahre.
    Und ich sage: besser spät, als gar nicht!

    Ich werde demnächst ziemlich laut. Werde schockierend an die Öffentlichkeit gehen. Habe mich während heftigster EMDR-Sitzungen gefilmt. Das zu bearbeiten, bis es „sendefähig“ ist, kostet viel Zeit.
    Vor allem aber horrende Kraft.

    Wir sind nicht allein! Das gibt mir Kraft.

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