talking about sexual trauma

Our civilizations are traumatized by sexual violence. A poison we should neutralize by talking

Astrid Lindgrens Kampf für bessere Kindheiten

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Die Spezies Mensch dürfte die einzige sein, deren Individuen Strategien entwickelt haben, sich selbst vor Schmerz zu schützen, indem sie ihre Kinder schädigen. Die generationenweise Schäden und Störungen weitergeben, und gänzlich unangepasstes, destruktives Verhalten, das vielleicht einmal zur Zerstörung der Menschheit führen wird. Siehe die Herren Kim Jong-Un und Trump, zwei Narzissten, von denen der eine glücklicherweise Kontrolle seiner Macht dulden muss.

„Ein Kind, das sich von seinen Eltern nicht geliebt fühlt und das nichts findet, was es lieben kann, oder woher es Liebe bekommt, wächst selbst zu einem unglücklichen und häufig lieblosen Menschen auf, der auf seinem Weg durchs Leben viel Schaden anrichten kann. Das Schicksal der Welt entscheidet sich in den Kinderzimmern. Dort wird entschieden, ob die Männer und Frauen der Zukunft Menschen mit gesunden Seelen und gutem Willen werden oder verkrüppelte Individuen, die jede Gelegenheit nutzen, ihren Mitmenschen das Dasein zu erschweren. Auch die Staatsmänner, die über das Schicksal der Menschen in der morgigen Welt entscheiden werden, sind heute kleine Kinder.“

Ich zitiere diesen Passus aus einem Interview mit Astrid Lindgren, wie er in Jens Andersens Biographie der Kinderbuch-Autorin wiedergegeben wird. Diese Biographie hat mich sehr berührt. Andersen verbindet Lindgrens Schaffen mit ihrem Engagements für die Kinder dieser Welt, und mit einer Geschichte der Pädagogik ihrer Zeit. Das zu lesen macht Mut. Lindgren hat viele Menschen und viele Ziele erreicht. Sie hat viel dazu beigetragen, die unheilvollen Traditionen autoritärer Erziehung aufzulösen.

Aber es gibt noch viel zu tun. Sehr viel. In Deutschland, diesem durch zwei Kriege und zwei Diktaturen zutiefst traumatisierten Land, besonders viel.  Und wenn in Europa, diesem wohlhabenden Kontinent, autoritäre Bewegungen wieder stark werden, hat das viel damit zu tun, dass ungeliebt groß gewordene Kinder meinen, ihr Recht auf Zuwendung und Anerkennung nun auf diesem Wege einfordern zu können. Und dass ungeliebt groß gewordene Kinder in Machtpositionen, die sie erreichten, mehr für ihre eigenen Interessen kämpfen als dafür, der Verantwortung gerecht zu werden, die ihnen diese Machtposition auferlegt.

Und dass auch destruktive Traditionen stark sind. Traditionen, die Schmerz und Gewalt durch Menschen gegen Menschen als gegeben und sinnvoll ansehen. Und deren wichtigstes Kriterium für die Strukturierung von Gesellschaften ist, wer Schmerz und Gewalt verteilen darf, und wer die anderen sind, die sie erdulden müssen. Traditionen, die eine Rationalisierung der unaufgearbeiteten, selbst erlebten Gewalt sind.

1978 hat Astrid Lindgren die berühmte Rede zum deutschen Buchhandelspreis gehalten, aus der ich eine noch immer erschreckend aktuelle Passage zitieren will. Übrigens hätte sie die eigentlich nicht halten dürfen; es wurde ihr mitgeteilt, sie möge sich bitte kurz fassen und einfach nur bedanken. Worauf sie antwortete, so ihr Biograph, dass sie krank sein werde, wenn sie ihre Rede nicht in voller Rede werde halten dürfen.

„In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kinder auch schon von jeher mit Liebe und ohne Gewalt erzogen. Aber wohl erst in unserem Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre Kinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnen das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung und ohne Gewalt frei zu entwickeln. Muss man da nicht verzweifeln, wenn jetzt plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr zu dem alten autoritären System fordern?“

Die Rolle sexueller Gewalt in diesen Unterdrückungssystemen hat Lindgren nie thematisiert. Aber das hätte sie sicherlich auch ihre Popularität gekostet. Eigenartig ist es doch. Sie war so sensibel und hellsichtig, wenn es um Kinder ging. Aber dieses doch vermutlich auch in Schweden verbreitete Verbrechen scheint – wenn der Biograph nicht etwas Wichtiges übersehen haben sollte – in ihrem Denken nicht vorgekommen zu sein.

3 Kommentare zu “Astrid Lindgrens Kampf für bessere Kindheiten

  1. Die Konstruktion der Figur von Pipi Langstrumpf lässt die Vorstellung von Missbrauch gar nicht zu. Pipi ist frech, stark, schlau, gewieft und was noch alles. Sie ist ein Supermädchen, manchmal niedlich, meistens eigensinnig und erfolgreich, eben eine Siegerin. Ein solches Mädchen würde jedes übergriffige Manns- oder Weibsbild in die Flucht schlagen. Ja, allenfalls wäre Pipi selbst übergriffig, so wie sie ihre Umgebung manipulierte.

    Nun kann man darüber nachdenken, ob Astrid Lindgren diese Figur als Kontrapunkt zu eigener Anschauung geschaffen hatte. Dazu gibt allerdings ihre Biografie nichts her. Dafür ist Pipi als antiautoritäre Göre wohl eher eine Gegenspielerin des Faschismus und der klerikal-autoritären schwedischen Gesellschaft.

    Lindgren wusste sicher auch um sexuellen Kindesmissbrauch, so wie die meisten Erwachsenen in allen Zeiten darum wussten. Meistens firmierte er unter Inzest, und meistens galt das Mädchen als die Verderberin oder Mitschuldige. Ich weiß jedenfalls von keiner Zeit, in der die Opfer sexualisierter Gewalt so entschieden als Opfer erkannt werden, wie dies heutzutage geschieht. Hier geschah tatsächlich ein Kulturbruch. Bei missbrauchten Jungen ist das leider immer noch anders, hier gilt vorrangig immer noch die Mär von der „Reifeprüfung“ (z.B. der Fall Macron).

    Dieser Kulturbruch ist allerdings auch im Westen immer noch nur oberflächlich und nicht tief verankert. Und er ist von der Reaktion bedroht; denn wenn ich daran denke, dass in der islamischen Kultur das vergewaltigte Mädchen und die vergewaltigte Frau als die Sünderin gilt, die notfalls, wenn sie ihren Vergewaltiger nicht ehelicht, ermordet wird, dann stehen wir erst am Anfang. Und dieser Anfang ist gefährdet; zum Beispiel auch dann, wenn wir die Ermordung von vergewaltigten Frauen auch hierzulande noch als Ehrenmorde bezeichnen. Hierbei beugen wir uns der menschenverachtenden Weltanschauung einer Täterkultur.

    LG Lotosritter

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    • „Bei missbrauchten Jungen ist das leider immer noch anders, hier gilt vorrangig immer noch die Mär von der „Reifeprüfung“ (z.B. der Fall Macron).“
      Werter Lotosritter, über diesen Satz musste ich jetzt eine Weile nachdenken. Ich weiß nicht. Einerseits denke ich, es wird schlicht oft ausgeblendet, dass auch Jungen und Männer Opfer sexueller Gewalt werden. Außer im kirchlichen Kontext, wo sie offenbar die Mehrheit der Opfer „stellen“ müssen. Andererseits denke ich, ein wenig hat sich das schon gebessert; allerdings nur im Kontext „Mann vergewaltigt Jungen“. Dass auch Frauen und Mütter sowas machen ist noch sehr tabu.
      Aber warum ist das so? Vielleicht ja doch auch, weil Männer einfach noch weniger drüber reden, oder es überhaupt wahrhaben wollen. Andererseits erzählte mir neulich jemand, Rosa von Praunheims Film über einen von seiner Mutter missbrauchten Jungen sei sogar im ÖFFENTLICH RECHTLICHEN FERNSEHEN gelaufen. Na sowas.
      Halten wir doch auch mal fest, dass bis 1997 rechtlich gesehen Männer gar nicht vergewaltigt werden KONNTEN. Es gab den Straftatbestand schlicht nicht.
      Trotzdem finde ich, die Männer könnten da ruhig etwas mehr tun. Ich finde auch, sie könnten sich stärker gegen all die behindernden Rollenzuschreibungen wehren. Aber ich glaube, mann will sich einfach auch nicht eingestehen oder gar thematisieren, dass mann leidet. Das wäre ja unmännlich. Oder wie?

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      • Liebe Nicht-die-einzige,
        das Tabu, dass Frauen sexuell missbrauchen, ist weiterhin so mächtig, dass genügend feministisch orientierte Internetseiten – trotz besseren Wissens – vermelden, dass 98 % aller Missbrauchstäter Männer sind. Eine Behauptung, die bereits rein rechnerisch nicht aufgeht, wenn man zum Beispiel die Mikadostudie heranzieht, nach der über die Hälfte der Missbrauchstäter bei Jungen weiblich waren. Und wenn Jungen anerkanntermaßen 20 % des Hellfeldes an Missbrauchsfällen stellen, dann kann man sich zu recht denken, dass hier ein Tabu gepflegt wird. Die Gründe hierfür hat beispielsweise Barbara Kavemann 1995 in ihrem Vorwort zu dem Buch „Frauen als Täterinnen“ recht tief reflektiert.

        Selbstverständlich passt es nicht ins Männlichkeitsbild, dass Jungen und Männer sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Ihr Hinweis darauf, dass es etliche politische Mühe brauchte, strafrechtlich festzuschreiben, dass auch Männer vergewaltigt werden können, ist mir noch gut in Erinnerung. Bei der Diskussion dazu vor 20 Jahren, ging es auch nicht um die Vergewaltigung von Männern durch Frauen, sondern ausschließlich um deren homosexuelle Vergewaltigung. Auch hier war noch der Gedanke, dass Vergewaltigung zwingend eine Penetration voraussetze, bestimmend.

        Ich denke auch nicht, dass das daran liegt, weil Mann sich einen solchen Übergriff nicht eingestehen will, sondern vielmehr daran, weil ein solches Eingeständnis kulturell verpönt respektive ausgeschlossen scheint. Ursächlich dafür sind die Vorurteile aus dem Frauen und Männerbild der Romantik, die heute noch die Festlegung der Geschlechterrollen beherrschen.

        Männer können sich und ihrer Mitwelt durchaus eingestehen, dass sie leiden. Nur an so etwas wie sexuellem Missbrauch oder häuslicher Gewalt leidet ein richtiger Mann nicht. Was dieses Tabu immer wieder verhärtet, ist das Schuldgefühl männlicher Opfer, dass Mann bei sexualisierter Gewalt funktionierte. Es beherrschte die Wahrnehmung meines Missbrauches auch über Jahrzehnte. Ich fürchtete stets, sobald ich mich offenbaren würde, in der Reaktion meines Gegenübers als Täter und nicht als Opfer gesehen zu werden. Das prägte auch mit den ursprünglichen Irrtum, der die Vergewaltigung von Männern, strafrechtlich ausschloss und der insbesondere bei homosexueller Missbrauchshandlung das Opfer bis zum Suizid belastet. Weil das Opfer funktionierte, wähnt es sich nach der erlittenen Tat für mitverantwortlich und schwul. Übrigens ein Umstand, der grundsätzlich und bekanntermaßen auch weibliche Vergewaltigungsopfer schwer belastet, denn auch sie funktionieren ungewollt aufgrund der erlittenen Stimulans.

        Ein weiterer Punkt dürfte die Objektrolle sein, auf die mich ein schwuler Freund einmal hinwies. Er meinte, für heterosexuelle Männer sei die Vorstellung als Sexualobjekt angesehen zu werden so ungewöhnlich, dass es sie zum Beispiel bis zur Impotenz irritierte, sobald sie diesen Objektstatus durch eine Frau erführen; während, ein Sexualobjekt zu sein, für einen homosexuellen Mann selbstverständlich sei. Andererseits wird von weiblicherseits dieser sexuell objektivierende Blick auf einen Mann weitgehend geleugnet bzw. verbrämt.

        Nebenbei, Praunheims Film ist autobiografisch. Ich habe ihn mir aber nicht angesehen, weil mich derlei Filme schwer triggern und ich bei Praunheim ohnehin drastische Bilder und Aussagen fürchte.

        Ebenfalls nebenbei, Männer wehren sich schon länger gegen allgemeine Rollenzuschreibungen, dafür werden sie als Maskulisten, Antifeministen und Nazis verschrien. Zudem folgt die öffentliche Wahrnehmung leider den eingefleischten Stereotypen, woran auch ein konservativ-reaktionärer Feminismus schuld ist, der vor allem von der Journaille reproduziert wird. So wird beispielsweise in jüngster Zeit zwar die häusliche Gewalt durch Frauen thematisiert, doch geschieht dies wenn, nur unter starker Relativierung.

        Überhaupt ist es oft ein großer Schritt, die erlittene Missbrauchshandlung als Missbrauchsopfer– vor allem wenn sie subtil geschah – überhaupt wahrzunehmen. Oft braucht es Jahre, vor sich selbst den Mut zu finden, das Geschehen richtig einzuordnen statt wegzureden. Doch es ist noch ein weiterer Weg, dahin zu gelangen, gegenwärtige Missbrauchshandlungen oder deren Versuche im persönlichen Umfeld klar zu benennen und abzuweisen. Deswegen sage ich in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt: Reden ist Gold, Schweigen ist Gift!

        Lieben Gruß Lotosritter

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